Peter Lindhorst hat in der aktuellen Ausgabe der Photonews eine Rezension zum Buch «Vineta» veröffentlicht, die mir und dem Verleger wie Musik in den Ohren klingt – nicht nur weil sie des Lobes voll ist, sondern auch, weil sie so schön geschrieben ist:
Dieses Mädchen. Steht da und rührt sich nicht. Schaut mich unverwandt an, ich blicke zurück. Als ich ein «Hallo» rufe, erwidert es den Gruß nicht. Das Mädchen drückt sich in eine Ecke, in der unverputzte Mauern zusammenlaufen. Eine Lücke klafft in der Wand. Plötzlich gibt es mir mit seinem Blick zu erkennen, dass ich ihm folgen soll. Ich zwänge meinen Körper durch das Loch und taste ich mich im Dunklen vor. Das Mädchen bewegt sich so geschickt vorwärts, dass ich ihm kaum folgen kann. Als ich um eine Ecke stolpere, schallt mir Musik entgegen. Plötzlich stehe ich vor einem Ausgang, durch den Licht flutet. Beim Ausstieg sehe ich einen Mann mit bizarrem Kopfschmuck und Showmaster-Sonnenbrille, der auf einer Parkbank sitzt und Mundharmonika spielt.
Sein elegischer Blues folgt mir, während ich an verrammelten Türen, verwitterten Fassaden und eingefallenen Mauern längs schreite. Zu gerne würde ich dem Mädchen Fragen stellen. Aber es ist verschwunden. An eine Wand hat jemand «Wir sind ein blödes Volk» gepinselt. Mir begegnen Kinder, die, als ich näher komme, stehen bleiben und jede meiner Bewegungen mit ernstem Blick verfolgen. Ich stolpere über einen Haufen Mauerziegel, bewege mich durch schattige Hinterhöfe, vorbei an einem Anhänger, auf dem Küchengerätschaften zum Abtransport aufgetürmt sind. Hinter einer Milchglasscheibe sehe ich die Umrisse einer Person. Um zu wissen, wo ich mich befinde, klopfe ich ans Fenster. Ein Mann beugt sich heraus und erklärt kopfschüttelnd, dass ich mich in meine Fantasie verirrt habe. Das verlorene Mädchen, fügt er hinzu, stamme vom «Vineta»-Cover.
Und dann besinne ich mich. Tatsächlich liegt das Buch von Andreas Trogisch seit Wochen zum Besprechen auf dem Schreibtisch. Unzählige Male habe ich das Cover-Girl betrachtet, das Buch geöffnet, bin durch die Seiten gewandert, habe mir mit stockendem Atem die Arbeiten angeschaut, mich tief in die Fotos versenkt und die Geschichten, die dort nur angedeutet sind, einfach weitergesponnen. Dabei passiert etwas, was kaum erklärbar ist: Nicht ich verschlinge das Buch, es ist umgekehrt. Ich ergebe mich der dunkel lockenden Bilderwelt von Andreas Trogisch, die meine Einbildungskraft jedes Mal aufs Neue befeuert. Das geht mir schon seit der Begegnung mit Trogischs Debüt «Desiderata» so. Weitere Arbeiten folgten, die vom Verleger Hannes Wanderer, ebenfalls ein glühender Trogisch-Bewunderer, in kongenialen Büchern umgesetzt worden sind. So auch dieses Mal.
Das neue Buch besticht durch die Konstruktion: zwei verflochtene Serien, die vor und nach dem Mauerfall entstanden sind. Dazu hat Trogisch aus der Tiefe seines Archivs eine Porträtserie aus Ost-Berlin geborgen. Die Zeit scheint für die Akteure 1985 bleiern stillzustehen. Über das Geschehen haben sich Schatten gelegt. Dass es Schatten sind, die von großen Ereignissen vorausgeworfen werden, ahnt niemand. Beeindruckt bin ich über das, was die Fotos erkennbar widerspiegeln: die Intensität der Begegnung zwischen Fotografen und seinem Gegenüber. Jene Porträts werden geschickt eingebunden in eine Serie, die direkt nach dem Mauerfall Berliner Stadtlandschaften zeigt. Die DDR ist abhanden gekommen. Untergegangen wie Vineta, jener geheimnisvolle Ort, den einst jedes Kind im Osten kannte und der Trogischs neuem Buch den Namen leiht. Die Ostseestadt war der Sage nach auf den Meeresgrund gezogen wurden, weil sich deren Bewohner hochmütig verhalten hatten. Nicht Stolz, sondern Zweifel ist vorherrschend bei denen, die nun in den veränderten Verhältnissen gezwungen sind, sich neu zu erfinden. Doch Menschen spart Trogisch in seiner Serie von 1990 völlig aus, stattdessen zeigt er uns einen Ort voll poetischer Eintönigkeit, in dem sich die Metamorphose der Gesellschaft, die neu gewonnene Freiheit und gleichzeitige Unsicherheit höchstens erahnen lässt. Trogisch beherrscht wie kaum ein anderer die hohe Kunst, das Kunstförmige seiner Fotografie hinter dem Erzählerischen verschwinden zu lassen und umgekehrt. Das Buch füllt mich mit tiefem, anhaltendem Erstaunen. Ein Erstaunen über die Möglichkeit der Fotografie, einen Zustand gedanklichen Wegschwebens zu erwirken.
Der Mann schließt sein Fenster. Ich lasse mich treiben durch Vineta, wo denkwürdige Dinge geschehen: Junge Männer mit verspiegelten Sonnenbrillen berichten von ihrer Vorliebe für Hardrock. Ein wild gestikulierender Mann baut sich vor mir auf. Auf eine Wand ist eine mathematische Formel gesprüht. Schließlich betrete ich einen Laden, dessen Scheibe eine aufgemalte Kaffeetasse schmückt. Dort halte ich inne und bedaure, das Mädchen verloren zu haben. Also nehme ich mir vor, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Das ist nicht schwer, dazu muss ich nur noch einmal das Buch öffnen.
Peter Lindhorst, Photonews September 2016