Vergangene Zukunft

Dies ist genau das Buch, das ich machen wollte. Aber während ich mich noch über diese kühne Idee freute, machten Regula Bochsler und Philipp Sarasin schon Nägel mit Köpfen.
Sie zeigen unsere Welt gleichzeitig «hoch aufgelöst» und «in Auflösung begriffen» («high re:solution/dis:solution») (Bernd Stiegler). Dazu verwenden sie nicht ihre eigene Kamera, sondern die von Apple, so wie vor ihnen auch schon Michael Wolf Googles Street-View-Kameras benutzt hat, um seine «unfortuate events» zu finden.
Bochsler und Sarasin nutzen die «Fly Over»-Funktion innerhalb von «Apple Maps», die annähernd fotorealistische 3D-Renderings vieler Städte der Welt liefert. Aber anders als noch Doug Rickard in «A New American Picture» folgen sie nicht mehr gezwungenermaßen der vom Kamerawagen abgefahrenen Spur, sondern synthetisieren sich selber ihre Ansichten von (fast) frei wählbaren Standpunkten aus, die korrekterweise «Schwebepunkte» heißen sollten, denn man kann immer nur irgendwie von oben nach unten sehen – die Freiheit endet bei 45°, auf das Straßenniveau kommt man nicht herunter und der Horizont wird einem vom Programm vorenthalten.
Die verkorksten, manchmal schemenhaften, zerschmolzenen, verbeulten, eingesackten, übel mißdeuteten Häuser, Brücken, Bäume, Raffinerien, Gräber, Schiffe, Autos lassen sich lesen als eine Allegorie auf den fatalen Glauben an die technische Erkenn- und Beherrschbarkeit der Welt.
Dabei haben die faszinierenden und verstörenden Bilder einen surrealen Charme, einen ästhetischen Reiz, der von den Unvollkommenheiten der verwendeten Technik herrührt. Trotzdem sie zum Avanciertesten gehört, was es gibt, ist sie überraschend oft nicht in der Lage, Plausibelstes zu erkennen und richtig darzustellen. Beängstigend wird das, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass das Verfahren, 3D-Darstellungen aus einer Reihe von Luftaufnahmen zu generieren, ursprünglich für den schwedischen Rüstungskonzern Saab entwickelt wurde und tatsächlich auch militärisch genutzt wird, beispielsweise um Drohnen zu steuern. Was «The Rendering Eye» zeigt, ist eine Entsprechung zu dem Bild, das sich nicht nur Google und Amazon in Form von automatisch generierten Nutzerprofilen von uns Menschen machen.
Ich weiß nicht, ob ich hoffen soll, dass wir hier nur die Consumerversion des «richtigen Dings» sehen, das längst schon irgendwo mit tödlicher Präzision arbeitet.

«The Rendering Eye: Urban America Revisited» von Regula Bochsler und Philipp Sarasin, Edition Patrick Frey, Zürich, 2014

Dieser Text erschien am 21.10.2014 in englischer Sprache als «Book of the Week»-Buchempfehlung im Blog von photo-eye.