Ur-Bilder

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Hennigsdorf, 1986

Ich glaube, dass Künstler im allgemeinen immer eine Art «Urszene» (nicht zwingend im Freudschen Sinne) haben, an der sie sich zeitlebens abarbeiten.
Wenn ich mich auf die Suche nach den Ur-Bildern in meiner Biografie mache, dann sehe ich zweierlei: Das Grün der brandenburgischen Landschaft, alte Klinkergebäude unter Kastanien im Sommer, so wie Christa Wolf schreibt: grüngolden ist die Farbe der Erinnerung.
Das andere ist Amerika: Als Kind war ich mit meinen Eltern zwei Jahre in Chile, umgeben von amerikanischer Kultur: Flugzeuge, Supermärkte, Straßenkreuzer, breite Vorortstraßen mit Einfamilienhäusern, bettelnde Kinder und Leute mit Bediensteten, eine gewaltige Landschaft drum herum: ein Land, 3000 Kilometer lang, der Pazifik auf der einen Seite, auf der anderen die Anden, über allem ein riesiger, klarer, unglaublich blauer Himmel. Zurück in Hennigsdorf, Kreis Oranienburg, Bezirk Potsdam, heute Land Brandenburg, direkt an der Mauer, aber auf der falschen Seite, fühlte sich das Leben danach nicht mehr ganz so an wie vorher; mit 18 hatte ich endgültig das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, und mit den falschen Leuten zu leben. Deshalb verstehe ich Dylans Satz sehr persönlich: «You’re born, you know, the wrong names, wrong parents. That happens».
Diese Konstellation des «nicht-ganz-richtig-Seins», des «nicht-richtig-Dazugehörens» scheint, bei aller persönlichen Unbequemlichkeit, für die Fotografie eine günstige Konstellation zu sein.
Zeitlich habe ich lange das gleiche Gefühl der Deplaziertheit gehabt: ästhetisch habe ich 10 Jahre hinterhergehinkt – ich glaube, ich habe das Hippiestadium nie richtig verlassen. Ich habe nie verstanden, warum ich nicht 1949 in San Francisco, sondern 1959 in Riesa an der Elbe geboren wurde. Schlimmster Ausdruck dessen war, dass als 17-Jähriger ich nicht in einer Bluesrockband, sondern im FDJ-Singeklub der EOS Gitarre gespielt habe.
Dazu kam, dass wir alle (ich rede von Hennigsdorf hinter der Mauer) mental in Westberlin lebten: mit einer S-Bahnstation an der amputierten Stummelstrecke direkt nach Gesundbrunnen, lange Zeit sogar noch mit den elektrischen Vorkriegswagen befahren, mit einem Nachbarn, der uns Kindern erzählte, wie er vor ’61 immer seine Budapester Schuhe angezogen hatte und mit seiner Rita nach Westberlin zum Rock’n’Roll-Tanzen gefahren ist, mit den Radionachrichten vom SFB, der uns mit den Staunmeldungen den westberliner Stadtplan beibrachte, mit der Berliner Abendschau und dem Werbefernsehen.
Nach Ostberlin zu fahren war eine halbe Weltreise, weil man wenigstens zweimal umsteigen musste, was wir angesichts unserer Lage direkt an der Mauer als Beleidigung empfanden.
Seltsamerweise schlug diese Diskrepanz nicht wie bei vielen in unüberwindliches Fernweh um. Stattdessen habe ich eher eine Verwandschaft zu einem von mir (und meinem Lehrer Manfred Paul) verehrten tschechischen Fotografen entdeckt: Josef Sudek, der als einsamer alter Mann in einem winzigen Holzhäuschen in einem Hinterhof auf der Prager Kleinseite wohnte und am Küchentisch seine Fotos von Wassergläsern und Zwiebeln machte – im Schein einer Kerze stundenlang belichtet und manchmal erst Jahre später auf Fotopapier kopiert. Mir war es nicht wichtig, durch die Welt zu reisen; ich habe mir einfach das gründlicher angesehen, was in Reichweite war. Selbst als mein bester Freund 1984 seinen Ausreiseantrag gestellt hat, habe ich nicht eine Sekunde selber darüber nachgedacht. Dabei habe ich nur sehr schwache Sympathien für die DDR gehabt; ich habe sie eher als eine surreale Kulisse genossen, in der man die phantastischsten Dinge finden konnte.